Rückblick 21. Heidelberger Ernährungsforum
Zucker: vom weißen Gold zur verschmähten Zutat Wissenschaftliche Betrachtungen aus einem interdisziplinären Blickwinkel
Mehr als 200 hochkarätige Wissenschaftler aus Medizin und Ernährungswissenschaft sowie Experten aus der Lebensmittelwirtschaft diskutierten am 17. und 18. November in der Dr. Rainer Wild-Stiftung über den Einsatz von Zucker in der Ernährungsindustrie, über die Höhe des Zuckerverzehrs und über die Bedeutung dieses Süßungsmittels bei der Entstehung metabolischer Erkrankungen. Fazit der Referenten: Der zu hohe Zuckerkonsum ist ein Problem, eine einfache Lösung ist nicht in Sicht.
1. Konsum und Funktionen von Zucker
Als Auftakt führte Prof. Dr. Gunther Hirschfelder, Universität Regensburg, durch die Kulturgeschichte des Zuckers. In seinem Vortrag zeigte er auf, dass süßer Geschmack in der von Mangel geprägten Steinzeit kalorienreiche Nahrung signalisierte und damit positiv bewertet war. Im 17 Jahrhundert wurde Zucker sogar als Medizin eingesetzt. „Auch in der Moderne ist Zucker immer noch ein ökonomischer Motor“, so Hirschfelder. Im Hinblick auf die aktuelle Situation kam er zu dem Schluss, dass Zucker weder gut noch schlecht sei, denn die normative Bewertung leitet sich aus den jeweils vorherrschenden kulturellen Werten ab. Das Problem sei unser Konsumverhalten.
Unter dem Titel Zuckerkonsum in Deutschland fasste Dr. Thorsten Heuer vom Max Rubner-Institut in Karlsruhe Zuckerverbrauchsdaten aus der Nationalen Verzehrstudie II zusammen. Pro Jahr liege der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland relativ konstant bei 33 bis 35 Kilogramm so genanntem freien Zucker. Heuer hob hervor, dass Verbrauch nicht mit Verzehr gleichzusetzen sei. Zudem spielten bei der Betrachtung des Durchschnittswerts auch die unterschiedlichen Verbräuche je nach Alter und Geschlecht eine Rolle. Heuer zeigte, dass Frauen etwa 15 Gramm pro Tag zwar weniger Zucker verzehren als Männer. Bezogen auf das mittlere Körpergewicht liege der Zuckerkonsum der Männer allerdings bei 13 Prozent, bei Frauen betrage er 14 Prozent. Damit sei der Wert bei beiden Gruppen deutlich höher als die von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlene Menge von weniger als 10 Prozent der täglich zugeführten Energie. „Mit über 100 Gramm pro Tag liegt der Zuckerkonsum bei Männern zwischen 15 und 24 Jahren sogar 20 Gramm über dem Durchschnittswert “, so Heuer.
Dass Zucker mehr ist als ein Kalorienlieferant, veranschaulichte Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhold Carle von der Universität Hohenheim in seinem Vortrag Funktionen des Zuckers in Lebensmitteln. Er präsentierte die vielfältige Funktionalität des Süßungsmittels beispielsweise als Aroma und Aromenverstärker oder auch als Farb- und Volumengeber. Des Weiteren eigne sich Zucker als Konservierungsmittel und gebe den Produkten Textur sowie Mundgefühl.
Abschließend betrachtete Rechtsanwalt Andreas Meisterernst aktuelle Kennzeichnungsvorgaben unter dem Titel Deklaration von Zucker. Nach seiner Auffassung sind die verpflichtenden Nährwertangaben auf Lebensmitteln als Ergänzung zu den Zutatenlisten als Informationen ausreichend. Der Zuckergehalt des jeweiligen Lebensmittels sei klar erkennbar, Transparenz somit gewährleistet. Zuckerhaltige Produkte mit weiteren so genannten gesundheitsbezogenen Angaben zu versehen, sei angesichts der Entscheidungen der EU-Kommission zu diesem Thema jedoch kaum möglich – „selbst bei wissenschaftlich gesicherten Aussagen“, so Meisterernst.
2. Zucker und Gesundheit
Prof. Dr. Hannelore Daniel, Technische Universität München, referierte über Physiologische Wirkungen von Zucker beim Menschen. Sie zeigte Untersuchungen zu den unterschiedlichen Transport- und Stoffwechselwegen von Fructose und Glucose auf. Angesichts der spezifischen Stoffwechselwege der Fructose und der Leberfettbildung durch dieses Monosaccharid kam sie zu dem Schluss: „Wir sind nicht dazu gemacht große Mengen Fructose aufzunehmen“. Kritisch sah sie die Übertragung von Studienergebnissen, die an Mäusen erzielt wurden, auf den Menschen. Daniel stellte abschließend fest „Die Energiezufuhr ist entscheidend. Unsere Lebensweise begünstigt Fettleber, aber es ist mehr eine Frage der Kalorien als der Chemie.“
Anschließend widmete sich Prof. Dr. Matthias Schulze vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke den Fragen Macht Zucker krank? Wie viel Zucker macht krank?. Er hatte die Ergebnisse zahlreicher Studien zum Zuckerkonsum und Erkrankungsrisiko miteinander in einer Metaanalyse verglichen. Dabei fand er keine ausreichende Beweislage für einen Zusammenhang zwischen der verzehrten Zuckermenge und chronischen Erkrankungen. Anders beschrieb Schulze die Situation für gezuckerte Getränke. Deren Konsum führt nach seiner Auffassung mittel- und langfristig zu einem erhöhten Körpergewicht und zu einem um 10% bis 40% gesteigerten Risiko für Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Schulzes Fazit: „Es gibt keine Anhaltspunkte, dass der Verzehr anderer Lebensmittel als gezuckerte Getränke das Risiko für Diabetes und Krebs erhöht“.
Die unterschiedlichen Formen der Zucker-Intoleranzen und ihre Abgrenzung zu Allergien und strukturellen Unverträglichkeiten beleuchtete Prof. Dr. Peter Konturek von der Thüringen-Klinik in Saalfeld. Er stellte insbesondere die Unverträglichkeiten von Lactose, Fructose und Sorbit und deren Wirkung auf die Darm-Mikrobiota dar. Konturek führte aus, dass alle Intoleranzen Überlappungen mit anderen Krankheiten zeigten. Da die nicht resorbierten Zucker von der Darmflora abgebaut würden, könne der gebildete Wasserstoff zur Diagnose in der Atemluft der Patienten gemessen werden. Eine Reduzierung der Mono- und Disaccharide habe deutliche Effekte auf die Darmflora und vermindere das Reizdarm-Syndrom.
Prof. Dr. Stephan C. Bischoff von der Universität Hohenheim sprach über das Thema Zuckertoxizität – Konsequenzen für Adipositas, Diabetes, Karies, Intensivmedizin. Er führte aus, dass jeder Fünfte in Deutschland adipös sei und es eine klare Korrelation zwischen dem Zuckerkonsum und einer Gewichtszunahme gebe. Nach seiner Einschätzung liegt das Hauptrisiko für die Entstehung von Adipositas im Konsum von Softdrinks. Hohe Mengen dieses „leichten Energieträgers“ schädigen den Studienergebnissen zufolge außerdem die Membrane des Magen-Darm-Traktes und führen – zumindest im Tierversuch – zu Fettleber, so Bischoff. Er sprach auch über das Thema „Zucker in der Intensivmedizin“, den dort auftretenden metabolischen Stress und die Mortalität durch Hyperglykämien. In der Kontrolle der Glucosezufuhr und des Blutglucose-Spiegels von Intensivpatienten sah Bischoff eine Maßnahme, deren Überlebenschancen zu verbessern. Da für Bischoff die Zuckerproblematik eine Mengenfrage ist, wies auch er auf die WHO-Empfehlung hin, der zufolge weniger als 10 Prozent der täglichen Gesamtenergiezufuhr durch freie Zucker erfolgen sollte.
3. Zuckerquote, die Zuckersteuer und Reduktionsstrategien
Unter dem Titel Der Wegfall der Zuckerquote in Europa und seine Auswirkungen stellte Marlen Haß vom Johann Heinrich von Thünen-Institut in Braunschweig die marktwirtschaftlichen Folgen für die Europäische Union vor. Sie präsentierte Modellrechnungen, wie sich der Markt in Europa entwickeln werde, nachdem die Verwendung von Isoglucose im Lebensmittelbereich, die so genannte Zuckerquote, zum 1. Oktober 2017 nicht mehr strikt eingeschränkt ist. Laut Haß ist im ersten Jahr ohne Quote bei weiter sinkendem Verbrauch ein Produktionsplus von etwa 18 Prozent zu erwarten. Schon bald werde die EU damit vom Importeur zum Exporteur von Zucker. Langfristig rechnet Haß innerhalb der EU mit einer deutlichen Steigerung der Isoglucose-Herstellung, insbesondere bei niedrigen Weltmarktpreisen, bei insgesamt stabilen Zucker-Produktionsmengen. Es sei davon auszugehen, dass zunehmend Haushaltszucker durch Isoglucose substituiert und das Preisniveau in der EU fallen werde.
Nationale Strategie für die Reduktion von Zucker, Fetten und Salz in Fertigprodukten und Getränken lautete das Thema von Dr. Dietrich Garlichs, Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und Deutsche Allianz Nichtübertragbarer Krankheiten. Aus Sicht Garlichs waren die bisherigen deutschen Initiativen, um der Entwicklung von Übergewicht, Adipositas und Folgekrankheiten entgegen zu wirken, erfolglos .Während andere Länder mit Zucker-, Fett- und Salzsteuern voran gingen, basierten die Empfehlungen in Deutschland nur auf freiwilligen Angeboten und seien Insellösungen. Daher präsentierte Garlichs drei aktuelle Vorschläge der DDG zu einer gestaffelten „gesunden Mehrwertsteuer“ auf Lebensmittel. Darin ist als Alternative 1 die Mehrwertsteuer festgesetzt auf 0 % für Obst und Gemüse, auf 7 % für Lebensmittel und auf 19 % für Getränke. Die Nummer 3 als schärfste Alternative sieht neben der Steuerbefreiung von Obst und Gemüse 19 Prozent vor für solche Lebensmittel, die per Ampel rot zu kennzeichnen wären, und 29 Prozent Mehrwertsteuer auf Softdrinks.
Den Vergleich zwischen verschiedenen Empfehlungen zur Zuckeraufnahme zog Prof. Dr. Bernhard Watzl vom Max Rubner-Instituts in Karlsruhe mit dem Vortrag Kritischer Überblick über behördliche Positionen (EFSA, WHO). Auch Watzl sprach sich für eine Begrenzung der täglichen Zuckeraufnahme auf maximal 10 Prozent der insgesamt aufgenommenen Energiemenge gemäß WHO-Empfehlung aus. Er zeigte am Beispiel verschiedener Länder, dass es bereits etliche verbindliche Regelungen zur Verminderung der täglichen Energiezufuhr gebe und die „strong recommendation“ der WHO bezüglich der Zuckeraufnahme akzeptiert sei. Lediglich das britische Scientific Advisory Commitee on Nutrition (SACN) empfehle seit 2015 den geringeren Schwellenwert von unter 5 Prozent der täglichen Energiezufuhr. Auf Antrag der nordischen Länder sichtet die European Food Safety Authority (EFSA) seit 2016 wissenschaftliche Studien mit dem Ziel, bis zum Jahr 2020 einen Schwellenwert zu definieren, bis zu dem die tägliche Zuckerzufuhr nicht mit gesundheitsschädlichen Wirkungen assoziiert ist, informierte Watzl.
4. Innovative Zucker, alternative Süßungsmittel
Dr. Jörg Bernard von der Südzucker AG in Mannheim referierte über Weniger Zucker gleich mehr Technologie. Er zeigte auf, dass die Lebensmittelhersteller weltweit nach einem Ersatz für den zunehmend verpönten Zucker in Lebensmitteln suchen, dabei aber an technische Grenzen stoßen, da Zucker als Zutat weit mehr Funktionen übernimmt, als nur für den süßen Geschmack zu sorgen. Der an die Nahrungsmittelindustrie gerichtete Ruf nach einer Reduktion von Zucker sei daher nicht so einfach zu erfüllen, wie sich das die Mehrheit der Konsumenten vorstelle. Bernard erklärte, dass Lieferanten, Lebensmittelindustrie- und Handwerk sowie Verbraucher gleichermaßen gefordert seien und zusammenarbeiten müssten, um die Verbrauchsmengen zu senken. Zulieferer hätten die Aufgabe, alternative Rohstoffe zu entwickeln, die verarbeitende Industrie sei in der Pflicht, durch technologische Weiterentwicklungen die zugesetzte Menge Zucker zu reduzieren. Dazu Bernard: „Die Reduzierung von Zucker in Lebensmitteln stellt für die Industrie ein komplexes technisches Problem dar, weil neben der Süße auch Aromen, Textur, Aussehen, Haltbarkeit und Mundgefühl beeinflusst werden.“ Meist seien mit dem verminderten Zuckereinsatz höhere Herstellungskosten verbunden. Das größte Potential, Zucker einzusparen, liegt laut Bernard aber beim Verbraucher und dessen persönlichem Verbrauch dieses Süßungsmittels.
Prof. Dr. Robert Mach von der Universität Wien präsentierte einen Übersichtsvortrag zum Thema Alternative Süßungsmittel. Derzeit existiert nach seiner Einschätzung am Markt eine Vielzahl alternativer Süßungsmittel, die jedoch sehr unterschiedlich zu beurteilen seien. Zur Gruppe der Zucker – von Mono- und Disacchariden über Dextrose bis hin zu Sirupen und Honig sieht Mach derzeit technologisch keine 100 prozentigen Alternative.
Mach erläuterte, dass die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) den Einsatz der innerhalb der EU zugelassenen Süßstoffe als gesundheitlich unbedenklich einschätzt, sofern die jeweiligen Höchstmengen nicht überschritten werden. Auch nach Aussagen des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) könne keine evidenzbasierte Empfehlung für oder gegen Süßstoffe ausgesprochen werden. „Süßstoffe mögen als diätetisches Hilfsmittel hilfreich sein, für eine optimale Gesundheit wird empfohlen, nur minimale Mengen von Zucker und Süßstoffen zu konsumieren“, so Mach. Aktuelle Studien legten die Vermutung nahe, dass Süßstoffe das Potential haben, die Darmflora zu verändern und den Glukosestoffwechsel zu beeinflussen. Was derzeit nach Einschätzung von Mach noch nicht absehbar sei, sind die Auswirkungen von Süßstoffen auf die Umwelt: So würden die mit dem Urin ausgeschiedenen Süßstoffe in Kläranlagen nur unvollständig abgebaut und gelangten in die Umwelt. Süßstoffrückstände seien im deutschen Oberflächengewässer, aber auch in Rhein, Neckar und Donau nachweisbar.
Dr. Detlef Groß, Wirtschaftsvereinigung Alkoholfreie Getränke wafg. Berlin, sprach über die Bemühungen der Branche zu Reformulierung von Erfrischungsgetränken: Chancen und Herausforderungen aus Herstellersicht.
Dank der Zutatenlisten und Nährwerttabellen gebe es keine versteckten Zucker in Lebensmitteln, wie dies oft von Verbraucherschützern unterstellt werde, stellte Groß klar. An der Nationalen Strategie für die Reduktion von Zucker, Fetten und Salz in Fertigprodukten und Getränken kritisierte Groß, dass die Auswahl der Produktgruppen nicht nachvollziehbar sei und das Konzept zu Einheitsrezepturen führen würde. Die Verbraucherakzeptanz sei der entscheidende Punkt für ein Produkt. Am Beispiel der Limonade machte Groß deutlich, wie schwierig gesetzliche Vorgaben sind: Bei einer zuckergesüßten Limonade sei ein Mindestgehalt von 7 Prozent Zucker vorgeschrieben, weil der süße Geschmack der wertgebende Bestandteil sei. Und wolle man Getränke als „zuckerreduziert“ ausloben, müsse der Zuckergehalt um mindestens 30 Prozent gesenkt werden. Groß betonte, dass die Rezepthoheit bei den Unternehmen liege, und dies auch so bleiben müsse. Zwischen dem Jahr 2000 und 2015 habe die Branche den Zuckergehalt ihrer Produkte um 12 % gesenkt. Das „bashing“ von Softdrinks sei nicht angebracht. Nektare und Fruchtsäfte hätten Zuckergehalte in ähnlicher Höhe. Groß bezweifelte, dass die Ursache für den „Übergewichts-Tsunami“ nur in der Produktkategorie Softdrinks liegt.
Prof. Dr. Anette Buyken, Public Health Expertin der Universität Paderborn, sprach über Zuckerhaltige Getränke aus Sicht der Public Health Nutrition. Bei ihren Überlegungen ging Buyken von der Prämisse aus, dass der aktuelle Zuckerkonsum in Deutschland zu hoch ist und dass der hohe Konsum zuckergesüßter Getränke das Risiko für Übergewicht und Adipositas und Typ 2 Diabetes mellitus erhöht. Mit der „Nuffield Intervention Ladder“ existiere ein Werkzeugkasten der Public Health Instrumente, mit denen sich der Zuckerkonsum reduzieren lasse. Buyken präsentierte die verschiedenen Interventionsmöglichkeiten, die vom einfachen Monitoring über die Bereitstellung von Informationen, die Ermöglichung einer gesunden Wahl, die Lenkung der Wahl und Änderung des Standards, dem Setzen von Anreizen bis hin zur Abschreckung, Einschränkung der Wahlmöglichkeiten und schließlich dem Ausschließen einer Wahl reichen. Manche dieser Maßnahmen werden Buyken zufolge in einigen Ländern schon erfolgreich zur Verbesserung des Gesundheitsstatus’ eingesetzt. So gäbe es beispielsweise in Dänemark und Neuseeland positive Logos, mit denen zuckerarme Lebensmittel gekennzeichnet werden. Die mit den Maßnahmen erzielten Auswirkungen durch eine Besteuerung adipogener Lebensmittel sind – so Buyken – vorausberechenbar: in Deutschland sei für Männern mittelfristig ein Rückgang der Adipositas um 8 % und für Frauen um 3 % zu erwarten. Dadurch könnten bei einem Steuermehraufkommen von 4,6 Milliarden Euro Gesundheitskosten in Höhe von 4,9 Milliarden Euro eingespart werden. Buyken sprach sich für die Einführung von Logos auf Lebensmitteln aus, die dem Konsumenten die gesunde Wahl erleichtern würden. Aber sie sah auch die Risiken durch eine Benachteiligung der Hersteller und durch die Bevormundung beziehungsweise Stigmatisierung der Verbraucher. Wichtig sei „ein Potpourri“ an Maßnahmen, wie verbindliche Standards zur Reformulierung, ein Verbot von Werbung, die sich an Kinder richtet, die Besteuerung zuckergesüßter Getränke, die steuerliche Entlastung gesunder Lebensmittel und verbindliche Standards für Settings in KiTas, Schulen, Krankenhäusern. Buyken schloss mit den Worten: „Die Vorschläge sind auf dem Tisch, lassen Sie uns gemeinsam diesen Weg gehen“.
5. Psychologie und Sensorik
Über Die Geschmacksvorliebe für „süß“ im Kindesalter – Implikationen aus psychologischer Sicht referierte Privatdozent Dr. Thomas Ellrott, Universität Göttingen. Ellrott erklärte die Vorliebe für Süßes anhand der Evolutionsbiologie. Sich am süßen Geschmack zu orientieren, habe Überlebensvorteile mit sich gebracht, da es keine Pflanze gebe, die süß schmecke und giftig sei. Von klein auf werde der Mensch an süßen Geschmack gewöhnt, da die Muttermilch einen Zuckergehalt von 8 Prozent habe. Zudem wirke Zucker über die Hormone Grehlin und Leptin quasi wie ein Belohnungssystem. Der Konsum von Zucker mache daher glücklich. Auf die Frage, wie man Kinder zu einem vernünftigen Umgang mit Süßigkeiten bringen könne, erklärt er, dass Verbote nicht funktionierten, weil sie nicht mit direkt erlebbaren Folgen verknüpft seien. Eine starke Restriktion könne die Präferenz für Süßes noch verstärken. Verknappung mache ein Produkt attraktiv. Cola werde zudem präferiert, weil das Produkt mit dem Erwachsensein gekoppelt sei. Ellrott empfahl, für einen gemäßigten Süßigkeiten-Konsum klare, nachvollziehbare Regeln einzuführen. Seine Untersuchungen hätten zudem ergeben, dass der Lebensstil auf alle Fälle immer dann gesünder sei, wenn Eltern selber kochen würden. Dies sei noch optimierbar, indem man Kinder in die Zubereitung des Essens mit einbeziehen würde. Auch Portionsgrößen sind nach Auffassung von Ellrott im Zusammenhang mit dem Zuckerverzehr ein wichtiges Thema, da Studien gezeigt hätten, dass viele Konsumenten erst dann aufhören zu essen oder zu trinken, wenn der Teller bzw. die Flasche leer ist.
Auch Dr. med. Özgur Albayrak von der Medizinischen Hochschule Hannover beschäftigte sich in seinem Vortrag mit dem Thema Macht Zucker glücklich? Macht Zucker süchtig? Laut Albayrak lässt sich die Frage, ob Adipositas die Folge einer Sucht ist, nicht einfach beantworten. Denn hier handle es sich um „eine ausführliche Gemengelage“, die nicht eindimensional betrachtet werden dürfe. Bei einer Sucht gehe man von tiefgreifenden Veränderungen und zwanghaften Verhaltensmustern aus, die gekoppelt seien an eine sinkende Dopamin-Ausschüttung und damit an einen „Gewöhnungseffekt“. Anders sieht Albayrak die Ergebnisse der Adipositas-Studien, die zudem häufig mit Tiergruppen durchgeführt würden. Zudem sei Essen schließlich existentiell und ein multifaktorieller Komplex. Sein Fazit: „Die Ergebnisse im Verhalten unterscheiden sich. Man sollte Adipositas nicht durch die eindimensionale Brille betrachten.“.
6. Fazit für die Praxis
Prof. Dr. Hans Hauner vom Else Kröner-Fresenius-Zentrum für Ernährungsmedizin der Technischen Universität München sprach in der letzten Session über Zuckerzufuhr und Prävention von Erkrankungen – Zusammenfassung der Kohlenhydratleitlinie. Hauner berichtete über die Kohlenhydrat-Leitlinie der DGE, die sich mit dem Zusammenhang von Kohlenhydratzufuhr und Primärprävention ausgewählter „ernährungsmitbedingter“ Krankheiten befasst. Knapp 250 Studien seien hierfür ausgewertet worden. Die Leitlinie kommt laut Hauner zu folgendem Ergebnis: Eine Korrelation zwischen der Zufuhr von Mono- und Disacchariden und den untersuchten Krankheiten ist nur unzureichend erkennbar beziehungsweise nicht evident. Auch für die Zufuhr von Polysacchariden und Stärke gibt es bei fast allen Krankheiten keine evidente Risikobeziehung, so Hauner. Ebenso wenig gebe es einen evidenten Zusammenhang zwischen dem Gesamtzucker- oder Fructose-Konsum und dem Diabetesrisiko. Dagegen fand sich in 15 Studien laut Hauner eine signifikante, inverse Beziehung zwischen dem Saccharose-Verzehr und Typ 2 Diabetes. Das heißt, ein hoher Konsum zuckergesüßter Getränke scheint mit einem erhöhten Adipositasrisiko assoziiert zu sein. Dies gilt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen. Die Studien seien allerdings nur partiell geeignet, um die Frage nach der Bedeutung des Zuckerkonsums für ein Erkrankungsrisiko zu klären. „Sie sind angreifbar. Problem ist die große Heterogenität der Bevölkerung“, informierte Hauner. Dennoch gebe es viele plausible Hinweise dafür, dass ein hoher Zuckerkonsum mit Gesundheitsrisiken assoziiert ist. Vor allem für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sei dieses Thema relevant. Handlungsbedarf besteht nach Hauners Einschätzung am ehesten bei zuckergesüßten Getränken, da der Konsum in einzelnen Gruppen „exorbitant hoch“, der ernährungsphysiologische Wert der Produkte jedoch minimal ist („leere Kalorien“), ein Sättigungsgefühl fehlt, und die Gefahr der „passiven Überkonsumption“ besteht. Daher sollten zuckerhaltige Getränke nach Möglichkeit gemieden werden, Zucker in verpackter Form steht dagegen in keiner signifikanten Beziehung zu ernährungsmitbedingten Krankheiten, so Hauner. Xylit und die Möglichkeiten, ihn zur Kariesprävention einzusetzen wurde von Sophia Müller, Geschäftsführerin der Xylosan GmbH, Schweiz vorgestellt. Sie berichtete über den Einsatz von Xylit als Zuckerersatz und seine Wirkung bei der Kariesprävention. Ihren Ausführungen zufolge haben Versuche mit Xylit gezeigt, dass Xylit die Karieshäufigkeit signifikant senkt und das Vorhandensein von Zahnbelägen vermindert. Zudem hätte Xylit das Potenzial, bereits vorhandene Karies rückgängig zu machen. Dies sei über eine Remineralisierung des Zahnschmelzes möglich. Xylit ist in der EU ohne Höchstmengenbeschränkung zugelassen. Der von Gesundheitsbehörden empfohlene Grenzwert liegt bei 0.5 Gramm Xylit pro Kilogramm Körpergewicht. Bei übermäßigem Verzehr kann es abführend wirken. Xylit kann laut Müller sowohl Lebensmitteln zugesetzt, oder auch als Spüllösung angewendet werden. Wie Beispiele aus Finnland und Japan an Müttern mit neugeborenen Kindern zeigten, schütze die Einnahme bzw. das Spülen mit Xylit bei der Mutter sogar die Kinder jahrelang vor Karies.
Prof. Dr. Stephan C. Bischoff von der Universität Hohenheim griff nochmals das Thema Zuckerreduktion als Therapiekonzept bei Adipositas und Diabetes auf. Seinen Ausführungen zufolge werden Diabetes und Adipositas weltweit in den nächsten Jahren weiter zunehmen und im Gesundheitswesen enorme Kosten verursachen. Während etwa ein Drittel der übergewichtigen Menschen als „gesunde Dicke“ gelten, entwickelt sich bei zwei Drittel der Adipösen das metabolische Syndrom. Bischoff betonte, auch wenn es eine Evidenz zum Zusammenhang zwischen Zuckerkonsum und Gesundheit vielleicht nie geben werde, sei es ratsam, Plausibilitätsstudien ernst zu nehmen. Der Bauchumfang sei bislang der deutlichste Risikofaktor und zeige einen sehr klaren Zusammenhang mit der Mortalität. Mögliche Therapieansätze bei Adipositas bestehen nach seiner Überzeugung neben der Senkung der Energieaufnahme und Erhöhung des Energieverbrauchs in einer Verhaltenstherapie sowie in der Änderung der Verhältnisse. Eine Zucker- und Fettreduktion bei krankhafter Adipositas und Diabetes II sei unbedingt zu empfehlen, um Gewichtszunahme, Vitaminmangel, Osteoporose, Metabolische Erkrankungen, Störungen des Bakterienmilieus, Störungen der Mukosa-Barriere und Fettleber zu vermeiden. Eine Fructose-reiche Ernährung stehe zudem im Zusammenhang mit der Bildung atherogener Lipoproteine und der Entwicklung einer Fettleber. Die Reduzierung des Fructose-Verzehrs könne zur Verbesserung der Blut-Plasmawerte führen, die Leberfunktion verbessern und das kardiometabolische Risiko senken.
Zum Abschluss der zweitägigen Veranstaltung ging Dr. Johan Wölber von der Klinik für Zahnerhaltungskunde und Paradontologie der Universität Freiburg auf die Zuckerreduktion zur Prävention von Zahnerkrankungen – warum und wie? ein. Er führte aus, dass der pH-Wert nach dem Verzehr einer typischen „Western Style“ Ernährung durch die Aktivität von mundeigenen Bakterien in den sauren Bereich absinkt und die Zähne schädigt. Erst nach 40 Minuten erfolge durch den Speichel eine Neutralisation und damit die Wiederherstellung des Milieus im Mund wie vor dem Essen. Wölber wies darauf hin, dass es Parodontose schon immer gab, Karies im Neolithikum jedoch nicht verbreitet war. Deshalb liege es nahe, dass die moderne Ernährung eine Ursache für Karies ist. Die Wissenschaftlichen Leitlinien zur Kariesprophylaxe umfassen seinen Erläuterungen zufolge zweimal tägliches Zähneputzen mit fluoridhaltiger Zahnpasta, eine möglichst geringe Zuckeraufnahme und das Kauen eines zuckerfreien Kaugummis nach den Mahlzeiten. Daneben empfahl Wölber die Wahrnehmung zahnärztlicher Prophylaxe-Programme: weitere Fluoridierungsmaßnahmen, je nach Bedarf Behandlung mit Chlorhexidin-Lack und gegebenenfalls Versiegelung kariesgefährdeter Fissuren. Wölber spricht sich für eine Zuckersteuer aus, die nach seiner Einschätzung die Karieshäufigkeit deutlich senken könnte. Er plädierte zudem dafür, der Ernährung in der zahnärztlichen Praxis einen höheren Stellenwert zu geben und Beratungsleistungen anzuerkennen.
Schlussbemerkung
Am Ende der zweitägigen Veranstaltung waren sich die Referenten aller Disziplinen einig, dass die Ursachen für Adipositas multifaktoriell sind und einen Paradigmenwechsel verlangen. So muss beispielsweise ein Umdenken von der Therapie zur Prävention stattfinden, neue Strategien für einen bewussteren Konsum sollten erarbeitet und die Ernährungsbildung schon in Kitas und Schulen verstärkt werden. „Das Thema ‚Zucker und Gesundheit‘ ist komplex, die Lösung der Probleme erfordert vielschichtige Maßnahmen. Den hierfür notwendigen gesamtgesellschaftlichen Dialog will die Dr. Rainer Wild-Stiftung vorantreiben und die interdisziplinären Lösungsansätze fördern“, stellte Wilhelm den Anspruch der Stiftung am Ende der zweitägigen Veranstaltung nochmals heraus.
Zur Dr. Rainer Wild-Stiftung
Die Dr. Rainer Wild-Stiftung ist eine der führenden Wissensplattformen für den interdisziplinären, wissenschaftlichen Austausch zum Thema „Gesundheit durch Ernährung“. Als gemeinnützige, unabhängige Stiftung zur Förderung von Forschung und Entwicklung gesunder menschlicher Ernährung richtet sie sich an alle, die beruflich mit dem Thema Ernährung befasst sind. Die Stiftung arbeitet mit einem interdisziplinären Ansatz und auf wissenschaftlicher Basis in enger Zusammenarbeit mit Partnern aus Wissenschaft und Forschung, Lehre und Beratung, Wirtschaft, Medien und Politik. Sie entwickelt Plattformen für den Wissensaustausch und -transfer im Bereich Ernährung, initiiert Modellprojekte, publiziert Fachbeiträge und bietet fachbezogene Fort- und Weiterbildungen. Die Dr. Rainer Wild-Stiftung wurde 1991 in Heidelberg von Prof. Dr. Rainer Wild gegründet. 2016 feierte sie ihr 25-jähriges Jubiläum.
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