Jahreszeit - Uhrenzeit - Mahlzeit. Der diktatorische Rhythmus des Hungers
Wer schon einmal innerhalb von 20 Stunden den Globus umrundet hat oder im norwegischen Sommer vergebens auf die dunkle Nacht wartete weiß, wie wichtig Zeit und Rhythmus für unseren Tagesablauf sind: Wir können nicht schlafen, weil es draußen noch hell ist. Wir haben Hunger – mitten in der Nacht. Mit Treibhaustomaten, Schichtarbeit und Neonlicht versuchen wir, Herr über die Zeit zu werden. Fakt ist aber, dass Leben ohne Zeit und Rhythmus nicht möglich ist. Dies zeigte die Tagung Geschmack der Zeiten – Zeiten der Ernährung, die die Dr. Rainer Wild-Stiftung, Heidelberg, in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Akademie Tutzing im September 2005 in Tutzing veranstaltete.
Zeit und Ernährung
Zeit bedeutet lineare Uhrenzeit, abstrakte Arbeitszeit, soziale und naturgebundene Zeit; sie ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir können Zeit messen, erfahren und benutzen. Ebenso wie die Ernährung ist Zeit ein elementarer Teil des Lebens. Die Zeiten der Ernährung sind Zeiten der Beschaffung, der Vor- und Zubereitung sowie Zeiten des Verzehrs und der Entsorgung. Naturwissenschaftliche Gesetze spielen ebenso eine Rolle wie Ernährungsempfehlungen, soziale Faktoren oder kulinarische Moden. Unser Umgang mit Zeit und Ernährung hat sich aber verändert: Wo früher Reifezeiten für die Gewinnung gesunder Lebensmittel notwendig waren und geregelte Mahlzeiten den Tagesablauf einteilten, bestimmen heute Zeitknappheit und neue Technologien unseren Alltag. Fast Food, Übergewicht, Fertigprodukte und der Verlust der Kochkunst sind nur einige Aspekte dieser Entwicklung.
Unsere Ernährung hat einen starken zeitlichen Bezug, wir essen sehr rhythmisch. Oft können wir aber nicht erklären, warum wir zu einem bestimmten Zeitpunkt essen, so Gesa Schönberger von der Dr. Rainer Wild-Stiftung. Nicht allein der Hunger scheint unsere Nahrungsaufnahme zu steuern, sondern auch soziokulturelle Faktoren.
Die Zeiten des Körpers
Gesundheit, Krankheit und Ernährung hängen eng mit Zeit und Rhythmus zusammen. Studien haben ergeben, dass Kinder meist in den späten Nacht- oder frühen Morgenstunden zur Welt kommen und dass die Sterberate im Winter deutlich steigt. Tief in unserem Gehirn sitzt eine Innere Uhr, die unser Leben bestimmt. Mensch, Tier und Pflanze verfügen über so genannte Uhrengene, die das Leben steuern. Björn Lemmer von der Universität Heidelberg/Mannheim erklärte, dass sich unsere biologischen Rhythmen nur unwesentlich voneinander unterscheiden, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe und Alter. Unsere Innere Uhr sendet Signale für Aktivität und Nahrungsaufnahme am Tag und Signale für den Schlaf in der Nacht. Sinkende Körpertemperatur, verminderte Insulinproduktion und verlangsamter Puls zeigen unserem Körper, dass es Zeit ist, einzuschlafen. Alles hat seine Zeit – für jeden von uns.
Allerdings können wir uns nicht ausschließlich auf unsere Innere Uhr verlassen. Tests mit Personen, die über mehrere Wochen in einem isolierten Raum untergebracht waren, haben gezeigt, dass unsere Innere Uhr nachgeht: Die biologischen Rhythmen, wie der Wechsel von Hunger-kein Hunger oder Wachsein-Schlafen bleiben trotz „ewiger Nacht“ erhalten. Aber ihr Maximum verschiebt sich. Unsere Innere Uhr bemisst den Tag nicht mit dem uns vertrauten 24-Stunden-Rhythmus, sondern mit ca. 24,2 Stunden.
Biologische Zeitgeber, wie das Hungergefühl, sind lebensnotwendig, aber nicht ausreichend. Der Mensch braucht externe Faktoren, an denen sich seine Innere Uhr orientieren kann, allen voran den Wechsel von Licht und Dunkelheit.
Die Zeiten des Tisches
Frühstück, Mittagessen und Abendessen sind in unserer Kultur üblich und füllen den Magen in regelmäßigen Abständen. Sie folgen den Zeiten des Körpers, indem sie den Hunger stillen und den Durst löschen. Sie folgen aber auch einem „vereinbarten“ Rhythmus. Mahlzeiten, so Barbara Methfessel von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, sind soziale Zeiten. Die gemeinsame Mahlzeit stellt den Beginn der Kultivierung des Essens dar, sie dient der Bildung menschlicher Gemeinschaften und gibt Zeit zur Kommunikation. Mahlzeiten sind aber auch Zeiten der Kontrolle: Nicht grundlos ist Fast Food das Essen der Jugendlichen, bietet es ihnen doch die Möglichkeit, sich der elterlichen Kontrolle zu entziehen.
Die These, dass bei der Gestaltung der Mahlzeit die Zeiten des Körpers Vorrang genießen, ist nicht zu halten, so Methfessel. Abgesehen vom diktatorischen Rhythmus des Hungers folgen unsere Mahlzeiten eher den soziokulturellen Rhythmen – denen sich der Körper (meist) anpasst. Unsere Ernährung, die Auswahl der Speisen, die Zubereitung und der Verzehr werden von den Zeiten des Menschen bestimmt, d. h. von deren Rhythmen und Rahmenbedingungen. Schule, Erwerbsarbeit oder persönliche Bedürfnisse sind wichtige Zeitgeber. Ebenso haben Wochentage, Jahreszeiten oder saisonale Aspekte Einfluss auf unser Essen. Traditionell gib es freitags Fisch und sonntags den Braten. Karpfen steht an Weihnachten auf dem Speiseplan, die Nüsse gibt es zu Nikolaus. Nicht zu leugnen ist ein verstärkter Rückgang der Speiserituale und ein Zuwachs so genannter zeitloser Angebote. Diese oft beklagte Entwicklung hat aber auch ihre positiven Seiten: Denn auch wenn das moderne Fondue Chinoise den traditionellen Karpfen ablöst, wird diese, oft der Not entsprungene Ordnung, in der Regel durch eine nährstoffreichere und ausgewogene Ernährung ersetzt.
Welche Faktoren und Zeitgeber das meiste Gewicht für und bei unserer Ernährung haben, blieb unbeantwortet. Die Tagung zeigte aber, dass sich biologische und soziokulturelle Rhythmen gegenseitig beeinflussen und – vor allem im Zusammenhang mit Essen und Ernährung – nicht isoliert voneinander betrachtet werden dürfen. Als Negativbeispiele dienen der Verpflegungsrhythmus in deutschen Krankenhäusern oder der frühe Unterrichtsbeginn in Grundschulen, die völlig konträr zu den Zeiten des Körpers stehen. Wir müssen die Zeiten kennen, um die Ernährung zu verstehen.
Weitere Informationen:
Dr. Rainer Wild-Stiftung
Nicole Schmitt
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