Geschmack der Zeiten - Zeiten der Ernährung
Der Umgang mit den Zeiten des Essens hat sich verändert. Die tägliche Beschaffung und Zubereitung war lange eine der wichtigsten Aufgaben des Menschen. Mahlzeiten teilten den Tages- und Jahresverlauf ein. Wachstums- und Reifezeiten waren elementar für die Gewinnung gesunder Lebensmittel. Heute bestimmt Zeitknappheit zunehmend unser Essen im Alltag. Wie wirkt sich aber der gegenwärtige Umgang mit Zeit auf unsere Ernährung aus? Welchen Wert haben die Zeiten der Ernährung heute? Was sind die wissenschaftlichen Grundlagen einer zeitgemäßen Ernährung? Diesen Fragen ging die Tagung „Geschmack der Zeiten – Zeiten der Ernährung“ nach, die vom 27. bis 29. September in Tutzing am Starnberger See stattfand. Die Veranstaltung war ein weiterer Meilenstein in der fruchtbaren Zusammenarbeit der Evangelischen Akademie Tutzing und der Dr. Rainer Wild-Stiftung, Heidelberg. Vorangegangene Workshops des gemeinsamen Projektes „Zeit & Ernährung“ bildeten die Basis zur Planung und Durchführung der Tagung (weitere Informationen zum Projekt unter: www.gesunde-ernaehrung.org und www.zeitoekologie.de). Neben spannenden Beiträgen, Diskussionen und Gesprächen machte ein breites Rahmenprogramm die Zeiten der Ernährung schmackhaft. So wurde beispielsweise Bier aus verschiedenen Stadien des Brauprozesses verkostet und den Zuschauern einer chinesischen Teezeremonie stieg der köstliche Duft der grünlichen Blätter in die Nase.
Auftakt
„Zu den Zeiten der Ernährung gibt es keinen systematischen Themenzugang“, so Gastgeber Dr. Martin Held von der Evangelischen Akademie Tutzing in seiner Eröffnungsrede. Aber Begriffe wie Fast Food und Slow Food beinhalten bereits eine klare zeitliche Komponente. So haben viele Bereiche der Ernährung einen starken zeitlichen Bezug: Wir essen sehr rhythmisch, können aber nicht unbedingt benennen, wieso wir zu bestimmten Zeitpunkten eine Mahlzeit zu uns nehmen. Dr. Gesa Schönberger, Dr. Rainer Wild-Stiftung, Heidelberg, fragte die rund 100 interessierten Gäste, wann denn eigentlich Mittag sei - wenn wir Hunger verspüren, wenn es 12.30 Uhr ist oder wenn es etwas zu Essen gibt.
Zeiten der Ernährung in Biologie und Physiologie
Prof. Lemmer, Universität Heidelberg/Mannheim, stellte dar, dass alle Lebewesen bis hin zum Einzeller durch den 24-Stunden-Rhythmus unseres Planeten geprägt sind. Unsere innere Uhr wird durch den Zeitgeber „hell-dunkel“ auf dieses 24-Stunden-System eingestellt. So schwanken die Enzym- level im menschlichen Organismus im 24-Stunden-Rhythmus. Obwohl diese Rhythmik bekannt ist, stellen sich beispielsweise medizinische Labore und Krankenhäuser nicht darauf ein. Die eingangs von Dr. Schönberger aufgebrachte Frage, wann denn eigentlich Mittag sei, wurde von PD Dr. Bernhard Watzl, Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel, erneut aufgegriffen. Er fragte: „Wie viel Zeit braucht eine Mahlzeit?“, „Wie viele Mahlzeiten brauchen wir?“ und „Ist eine bestimmte Tageszeit notwendig für eine bestimmte Mahlzeit?“ Anhand aktueller Studien belegte er eindrucksvoll, dass (1) wir uns mehr Zeit für unsere Mahlzeiten lassen sollten, (2) eine gesteigerte Mahlzeitenhäufigkeit und regelmäßiges Essen sich positiv auf den Stoffwechsel auswirken und (3) die Tageszeit einen entscheidenden Einfluss auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen hat. So wird zunehmend belegt, dass das Frühstück eine wichtige Mahlzeit ist. Jedoch kann es keine Verallgemeinerung geben. Jeder sollte ein persönliches Optimum anstreben. Dass Essen auch einen Einfluss auf den Schlaf hat, verdeutlichte Dr. Barbara Knab, Wissenschaftsjournalistin aus München. „Eine normale Sättigung sorgt dafür, dass man schläfrig wird, schnell einschläft und Tiefschlafphasen erreicht. Hungergefühl hingegen weckt.“ Auch die Mahlzeitenqualität wirkt sich auf das Schlafen aus: Eine kohlenhydratreiche Mahlzeit am Abend macht müde und schläfrig. Im Gegensatz zu einer schweren, fettreichen Mahlzeit führt sie zu guter Schlafqualität
Zeiten der Ernährung in Gesellschaft und Kultur
Den kulturellen Aspekt der Zeiten der Ernährung griff Prof. Dr. Barbara Methfessel von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg auf. Sie hielt fest, dass die Zeiten des Körpers unter Umständen anders sein können als die Zeiten des Essens. „Viele jüngere Menschen lassen Mahlzeiten ausfallen, um schlank zu bleiben.“ Gemeinsame Mahlzeiten haben jedoch weiterhin eine zentrale Bedeutung. Sie vermitteln schon Kindern Normen und Werte, soziale Strukturen werden gefestigt und eine Esskultur wird geprägt. „Mahlzeiten sind Entspannungszeiten und dienen der Erholung beim Essen“, so Methfessel.
„Nach wie vor sind die Frauen für die Beköstigung der Familie zuständig. Jedoch ist die Zeitaufwendung, die dafür aufgebracht wird, rückläufig“, legte Erika Claupein, Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel, Karlsruhe, anhand von Daten aus der Zeitbudgetstudie von 2001/2002 dar. Es sind aber nicht nur soziokulturelle Gegebenheiten, die die klassische Rollenverteilung prä- gen, sondern auch die Familienpolitik. Eine vermehrte Zahl an Ganztagsschulen könne die Versorgung der Kinder über Mittag sicherstellen, so dass eine Vollzeitbeschäftigung für Frauen möglich würde. „Esskultur ist ein Spiegelbild der Gesellschaft“, schloss Claupein und appellierte dabei an jeden einzelnen als Akteur.
Dagmar Vinz vertiefte die Zeitverantwortung und -verwendung der Geschlechter. Die Politikwissenschaftlerin von der Freien Universität Berlin berichtete von einer „Krise der Versorgungsarbeit“ in privaten Haushalten durch die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen. Laut Vinz sind noch keine gesellschaftlichen Strukturen zu finden, bzw. verankert, welche den Verlust der Rolle privater Haushalte ausgleichen.
„Die Zeiten der Gesellschaft haben sich von der Vormoderne über die Moderne bis hin zur Postmoderne, also der heutigen Zeit gewandelt.“, so Prof. Dr. Karlheinz A. Geißler vom Tutzinger Projekt „Ökologie der Zeit“, München. Lebten die Menschen der Vormoderne noch ohne Uhr und in Abhängigkeit von der Natur, so leben wir heute in einer Gesellschaft der Gleichzeitigkeit. „Es handelt sich weitgehend um Zeiten der Arbeit und somit im übertragenen Sinne um Zeiten des Überlebens.“
Zeiten der Ernährung in Politik und Wirtschaft
Manuel Schneider vom Projektbüro ! make sense !, München, bot einen Einblick in die Ökonomie der Zeit in der Landwirtschaft. In einem heute modernen Stall werden mehr Milch, mehr Fleisch, mehr Eier in immer kürzerer Zeit produziert. So ist die Milchleistung einer bundesdeutschen Kuh seit den 60er Jahren bis heute um etwa 30 % gestiegen. In Bezug auf die Lebensdauer der Milchkühe, hat sich die Milchmenge jedoch nicht stark verändert. „Die Schnellen fressen trotzdem die Langsamen.“ Aber es gibt auch biologische Grenzen, - sowohl beim Tier als auch beim Menschen. Die Tiere sind krankheitsanfällig, gestresst und führen ein Leben auf Reserve. Landwirte sind einem zunehmendem Zeitdruck unterworfen. Trotz moderner Technik „gewinnen“ sie keine Mehr-Zeit. Zeit wird nicht freigesetzt, sondern verdichtet. Schneider warnte davor, vergangene Zeiten zu idealisieren. Viele Prozesse seien ökonomisch und sozial unumkehrbar. „Eine Zeitkultur fällt nicht vom Himmel, wir müssen lernen, mit den neuen Zeiten der Landwirtschaft umzugehen.“
Lucia Reisch, nwd institut, Universität Witten-Herdecke, stellte das gerade erschienene Grundsatzpapier Ernährungspolitik vor (www.verbraucherministerium.de). Analog zur Plattform „Ernährung und Bewegung“, die vom Bundesministerium für Verbraucher, Ernährung und Landwirtschaft initiiert wurde, schlug sie eine Plattform „Ernährung und Zeit“ vor. Eine ihrer zentralen Forderungen an eine zeitgemäße Verbraucher- und Ernährungspolitik ist die Erforschung monetärer gesellschaftlicher Kosten des Zeitdrucks und der Entrhythmisierung.
„Die Zeit in der wir leben, ist auch eine ökonomische Zeit.“, so Werner Prill von der Lebensmittelzeitung. Er stellte dar, wo die Zeit in der Ernährungswirtschaft eingebettet ist. „Im Lebensmitteleinzelhandel herrscht ein starker Wettbewerb. Doch wo bleibt die Qualität?“ Inzwischen sprechen Experten von der „Einstiegsqualität“, wenn ein Produkt die Mindestanforderungen erfüllt, also qualitativ auf der untersten Stufe anzusiedeln ist. Fragen, die sich jedoch beim Konsumenten ergeben, lauten: Wie viel Zeit brauche ich, um das richtige Produkt zu finden? Wieso kann mir die Werbung bei der Entscheidungsfindung nicht weiter helfen? Der Handel hat es mit dem „Hybriden Verbraucher“ zu tun. Dieser ist nicht berechenbar, es existiert keine klare Zielgruppe. Dennoch richtet der Handel sich heute stärker nach den Wünschen von Verbrauchern. Er bietet nicht nur Supermärkte an, sondern ganze Erlebniswelten. Es sei wichtig, eine Einkaufskultur zu fördern. Schon Kinder müssten richtiges einkaufen lernen.
Fazit und Zusammenfassung
„DIE Zeit gibt es nicht“, so brachte es Klaus Kümmerer von der Universität Freiburg und dem Tutzinger Projekt „Ökologie der Zeit“ auf den Punkt. Die Variabilität und Vielfalt von Zeiten in der Ernährung ist zu beachten. Eine gesunde Ernährung ist an einer Synchronisation von Zeiten ausgerichtet und berücksichtigt die zeitliche Vielfalt und zeitlichen Versetzungen. Zum Abschluss ging Dr. Schönberger nochmals darauf ein, dass Essen und Ernährung eng mit den unterschiedlichen Dimensionen von Zeiten verbunden sind. „Die Zeiten ändern sich und wir ändern uns mit ihnen.“
Die verschiedenen Perspektiven, aus denen die Zeiten der Ernährung im Laufe der Tagung beleuchtet wurden, verdeutlichen, dass der „Rhythmus der Nahrungsaufnahme von biologischer, psychischer und soziokultureller Bedeutung für die Gesundheit des Menschen ist.“ Qualität und Quantität von Nahrungsmitteln unterliegen Produktions- und Prozesszeiten. So ist die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln von Jahreszeiten, Haltbarkeiten, Transport- und Lagerzeiten, der Konsum von Jahres-, Wochen- und Tageszeiten, Zeitpunkten und Mahlzeitennormen geprägt. Auch wenn die Abhängigkeit von äußeren Faktoren durch moderne Errungenschaften wie beispielsweise Schockgefrieren, abnimmt, fließen Natur- und Kulturzeiten dennoch ineinander und lassen sich nicht vollständig voneinander lösen.
Das Fazit der Tagung könnte lauten: Es ist ein ausgewogener Umgang mit den Zeitrealitäten notwendig. Eine größere Wertschätzung des Essens als Zeit zur Kommunikation, Muße und Entspannung kann zur gesunden Ernährung beitragen. (KL)