19. Heidelberger Kamingespräch: Essen in Widersprüchen – Neue Werte auf dem Teller und die Zukunft der Ernährung
Mit dem vielversprechenden Titel „Essen in Widersprüchen“ und gleich zwei hochrangigen Referentinnen lockte die Dr. Rainer Wild-Stiftung am 28. Mai rund 50 Gäste zur 19. Ausgabe der Heidelberger Kamingespräche in das Conference Center der Dr. Rainer Wild-Holding nach Heidelberg. Dr. Hans-Joachim Arnold, Vorstandsvorsitzender der Dr. Rainer Wild-Stiftung, begrüßte im gewohnt hochwertigen Ambiente des Conference Centers der Dr. Rainer Wild Holding.
Mit der jüngsten Veranstaltung setzte die Dr. Rainer Wild-Stiftung das seit 2010 bestehende wissenschaftliche Dialogformat der Kamingespräche nach einer mehr als dreijährigen Pause fort. Als exklusives und interdisziplinäres Forum aus Wissenschaft und Praxis greift die Veranstaltungsreihe Fragen zur Zukunft von Medizin, Gesundheit und Ernährung auf. Die Diskurse setzen aktuelle wissenschaftliche Entwicklungen, deren Möglichkeiten und Risiken in den Fokus, die mit ganzheitlichem Blick erörtert werden.
In seinen Grußworten betonte Dr. Arnold die hohe Bedeutung einer guten Dialogkultur, die auf wissenschaftlichen Fakten basiert und dabei unterschiedliche Positionen zulässt. Vor dem Hintergrund der vielen aktuellen Unsicherheiten und Widersprüche, denen wir in unserer Ernährung begegnen, verwies er auch auf die Erkenntnis, dass es in einer komplexen Welt nicht nur eine Wahrheit gibt und die Lösung letztlich im interdisziplinären Dialog zu entwickeln sei.
Ausgehend von diesem Stichwort führte die Geschäftsführerin der Dr. Rainer Wild-Stiftung Dr.in Silke Lichtenstein in den Abend ein. Denn es war ein ebensolches Zwiegespräch, aus dem sowohl das Thema als auch die glückliche Begebenheit hervorgegangen waren, dass mit Professorin Dr.in Sabine Kulling und Professorin Dr.in Hannelore Daniel gleich zwei hochkarätige Expertinnen das Programm des diesjährigen Kamingesprächs bestritten. Ausgangspunkt ihres gemeinsamen Vortrags zu einer zukunftsfähigen Ernährungsweise im Kontext aktueller Widersprüche war die Botschaft „Neue Werte auf den Teller“. Obwohl der Titel zunächst optimistisch stimmt, beinhaltet er doch ein Dilemma: Die Komplexität der Ernährung hat ein Ausmaß erreicht, das auch für Expert*innen und erst recht für Laien kaum zu bewältigen ist. Was in der Konsequenz bedeutet, dass sowohl die Vereinfachung als auch die Widersprüche zunehmen werden.
Aufgabe der Wissenschaft ist es, sich dennoch mit der Komplexität zu beschäftigen und Widersprüche auszuhalten. Mit diesem Leitgedanken starteten Daniel und Kulling ihren fundierten Vortrag.
Zum Einstieg gab Daniel einen Überblick über die wichtigsten Fakten zu den neuen Wertevorstellungen, die sich auf dem Teller widerspiegeln, wie Klimawandel, Regionalität und Tierwohl. Mit der Einordnung der Relation von pflanzlichen und tierischen Proteinen in den derzeitigen Verzehrsgewohnheiten, im Hinblick auf die Klimawirksamkeit, den Land- und Wasserverbrauch und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit zeigte sie auf, dass sich die Emissionen durch Ernährung durch eine Änderung des Verhaltens um bis zu 45 Prozent reduzieren ließe. Die größte Schwierigkeit sei, dass es den Menschen schwerfalle, ihr Ernährungsverhalten anzupassen.
Einen zweiten zentralen Widerspruch griff Kulling auf: den zwischen einer oft romantisierten Vorstellung einer natürlichen, gesunden Ernährung einerseits und den heutigen Umständen der globalen Ernährungssysteme sowie den neuen technologischen Möglichkeiten andererseits. Anhand des innovativen Dachprojekts NewFoodSystems des Max-Rubner-Instituts und zahlreichen anderen Kooperationspartner*innen legte sie an der gegenwärtigen Forschung dar, wie die Zukunft der Ernährung aussehen könnte. Im Rahmen des sogenannten Innovationsraums werden derzeit 18 Projekte in den Sektoren Ressourceneffizienz, Controlled Environment Cultivation sowie neue Lebens- und Futtermittelzutaten bearbeitet. Untersucht werden u. a. neue Technologien der Nahrungserzeugung, wie Präzisionsfermentation oder alternative Proteine. Dabei kam auch die aktuelle Konkurrenzfähigkeit dieser Nahrungsmittel auf dem deutschen Markt zur Sprache. Auch Fragen der Preisgestaltungen wurden angesprochen, wobei eine Preis-Parität aktuell nicht gegeben und auch künftig fraglich sei. Ferner wurden Indoor-Kultivierung von Pflanzen, Mikroalgen sowie die nachhaltige Kulturvierung von Insekten thematisiert.
Neue Technologien und Novel Foods waren Anknüpfungspunkte zum aktuell vielleicht am widersprüchlichsten diskutierten Thema, dem der hochverarbeiteten Lebensmittel bzw. UPF (ultra processed food). Die konfliktreichste Fragestellung ist derzeit die nach einer validen Definition und Kategorisierung von Produkten. Weder die Nova-Klassifikation noch die überwiegend kommunizierte Risikodarstellung durch den Konsum hochverarbeiteter Produkte hielten nach Auffassung von Daniel und Kulling den gesetzten wissenschaftlichen Ansprüchen Stand. Kulling kündigte an, dass eine Arbeitsgruppe bereits dabei sei, diesen Missstand zu beheben, aber auch, dass hohe wissenschaftliche Qualität ihre Zeit brauche.
Sowohl die widersprüchlichen Diskurse um hochverarbeitete Produkte als auch die Auslassung solcher alltäglichen Nahrungsquellen in den neuen, unter ökologischen Gesichtspunkten überarbeiteten Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) leiteten zur näheren Betrachtung dieser über. Sie wurden einem „Realitätscheck“ bezüglich ihrer Eignung als Orientierungshilfe für eine zukunftsfähige Ernährungsweise in Deutschland unterzogen. Fokussiert wurden die Möglichkeiten von Verbraucher*innen hinsichtlich der Umsetzung im Kontext von Anbaubedingungen und -grenzen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Struktur und gesunkener Zeitverwendung für die Nahrungszubereitung sowie über Jahre etablierter Ernährungstraditionen.
Am Beispiel der generellen Empfehlungen für den Verzehr von Milchprodukten stellte Daniel abschließend die erhebliche Relevanz der Erzeugungsbedingungen dar, die im Widerspruch zur gängigen Pauschalverurteilung von Wiederkäuern als „Klimakiller“ stehe. Mit der Nutzung von ausschließlich Dauergrünland zur Weidehaltung böten die Flächen das Potential, 50 Prozent des derzeitigen Verbrauchs an Rindfleisch und Milchprodukten zu decken, ohne dass diese Flächen in Konkurrenz zur menschlichen Nahrungsmittelproduktion stünden.
Im Anschluss stellten sich die Expertinnen den zahlreichen Fragen des durch die vielen Impulse angeregten Plenums. Die Leitfragen der moderierten Diskussion waren: Wie haben sich die Prioritäten für Bewertungen von Lebensmitteln verändert? Was essen wir morgen und was wird sich durchsetzen/halten?
Im Mittelpunkt der Diskussion standen erneut die hochverarbeiteten Produkte, deren Klassifikationsmöglichkeiten sowie deren Bewertung insbesondere aus gesundheitlicher Sicht. Auch die monetäre Perspektive wurde kritisch hinterfragt. Im Hinblick auf die wissenschaftlich nicht gerechtfertigte Pauschal-Abwertung stand auch die problematische Negierung der Vorteile der Prozessierung von Lebensmitteln, wie etwa die hygienische Sicherheit, aber auch ernährungsphysiologische oder Genuss-Aspekte.
Im Hinblick auf die Fragestellung, was wir denn nun in Zukunft essen wollen bzw. sollen, kamen erneut die DGE-Empfehlungen zur Sprache. Wünschenswert seien beispielsweise eine konkrete Zeitachse für die Ernährungsumstellung, möglicherweise gekoppelt an eine stufenweise Reduzierung der Portionen. Abgerundet wurde die Diskussion mit der Erörterung heutiger, fortschrittlicherer Methoden zur gentechnischen Veränderung von Pflanzen und deren Potenziale für unsere zukünftige Ernährung. Dabei kam man zu dem Schluss, dass diese vermutlich in der Zukunft auch in Deutschland eingesetzt würden, aber auch keine ausreichende Veränderung brächten.
Das Programm endete mit einem Statement von Dr.in Lichtenstein, die noch einmal die Wichtigkeit einer gewissenhaften und ressourcensensiblen Ernährungskommunikation in den Fokus rückte. Institutionen wie die DGE und das Bundeszentrum für Ernährung (BZfE) kämen dieser Aufgabe bereits nach. Mit dieser positiven Grundstimmung gingen Teilnehmende und Referentinnen über in einen inspirierten und genussvollen Austausch beim gemeinsamen Abendessen.
Die Referentinnen spenden ihre Honorare an die Tafeln Deutschland e.V. und an das Projekt „Power Kiste - Frühstück für Kinder“ der Tafel Akademie gGmbH sowie das Hospiz Bergstraße gGmbH
Kontakt:
Dr. Silke Lichtenstein
(Geschäftsführung, Wissenschaftliche Leitung)
Dr. Rainer Wild-Stiftung
Adresse: Mittelgewannweg 10, 69123 Heidelberg
Telefon (Administration, Frau Christina Janda): 06221 7511 200
E-Mail: lichtenstein@gesunde-ernaehrung.org