Ernährungs-Blog

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Rezension - Zwischen Küche und Stadt

Zur Verräumlichung gegenwärtiger Essenspraktiken | Dr.-Ing. Julia von Mende

Bild: transcript Verlag

Das Buch gliedert sich in sieben Teile. In der Einführung widmet sich von Mende dem Problemaufriss und legt dar, dass sich in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern ein Forschungsdesiderat zwischen dem Essen selbst und den Räumen darum auftut, weswegen sie eingangs einen um Sozial- und Kulturwissenschaften erweiterten Architekturbegriff einführt. Außerdem findet sich ein Abschnitt zur praxistheoretischen Perspektive mit Bezug auf Essen und Raum. Bereits in diesen ersten Abschnitten verdeutlicht die Autorin, dass ihre Arbeit transdisziplinären Modellen folgt und sich nicht den üblichen Disziplingrenzen unterwirft. Entsprechend umfassend bedient sie sich im Laufe der 444 Seiten starken Publikation architekturtheoretischen, sozialempirischen, ethnografischen sowie kulturanthropologischen Theorien. Dazu zitiert sie grundlegende Werke und Vorarbeiten aus diesen Fachgebieten, welche die Perspektive auf Essenspraktiken und deren Verräumlichung umfangreich erweiteren.

In Kapitel zwei stellt sie privathäusliche und außerhäuslichen Essenspraktiken basierend auf wissenschaftlichen Datensätzen dar und erfasst die beeinflussenden Determinanten. Am Beispiel der Großstadt Berlin charakterisiert die Autorin beispielsweise urbane und rurale Entwicklungen, Tendenzen und Unterschiede in den Essenspraktiken verschiedener gesellschaftlicher Gruppen (z. B. Single- vs. Mehrpersonenhaushalte, ostdeutsche vs. westdeutsche Haushalte sowie Haushalte mit und ohne Migrationshintergrund).

Das dritte Kapitel erläutert das qualitative Forschungsdesign dessen Kernstück die Befragung von zehn Berliner Haushalten ist. Außerdem wird die Integration von Zeichnung und Befragung dargelegt. Wie in der qualitativen Forschung stets zugrunde gelegt, möchte von Mende die Phänomene von Essenspraktiken in der Lebenswelt sowie ihre Bedeutung, Verortung und Zeitlichkeit sichtbar machen und Hintergründe freilegen. Die Autorin erhebt daher keinen repräsentativen Anspruch an ihre Arbeit.

Illustriert wird das in der anschließenden Ergebnisdarstellung der Kapitel 4 bis 6, die mit zahlreichen wörtlichen Zitaten aus den von ihr geführten leitfadengestützten Interviews, architektonischen Zeichnungen sowie Fotografien und andere Abbildungen beim Durchblättern zum vertiefenden sprichwörtlichen „Hängenbleiben“ und Weiterdenken anregen.

Insbesondere die ästhetisch anmutende, axonometrische Darstellung der Küchen der befragten Haushalte (S. 122-132) verdeutlicht den Versuch eines „objektiven Zugangs“ zu den räumlichen Gegebenheiten. In Form einer Vogelperspektive erlauben die technischen Zeichnungen einen unverstellten Blick auf das Objekt, der – anders als bei Fotos – frei von sinnlich-ästhetischer Wertung der physisch-materiellen Gegenstände bleiben kann und damit überraschend viel Raum lässt für die eigene Vorstellung. Historische Exkurse und Verweise in mehreren Kapiteln verhelfen zusätzlich zu einem besseren Verständnis sozialer Phänomene, beispielsweise indem sie deren Entwicklung im Wandel der Zeit beleuchten.

Funktions- und Bedeutungsvielfalt heutiger Küchen, denen sich Kapitel vier widmet, nutzt von Mende, um Küchen u. a. als Produktionsstätte, Kommunikationsraum, Lebens- und Arbeitsraum sowie als Investitions- und Repräsentationsraum vorzustellen. Aus den Befragungen diffundiert die Autorin beispielsweise das Phänomen der häufig genannten „Kochinseln“ als eine vage Idealvorstellung davon, wie Leben, Kochen und Essen zusammenspielen (müssen), vielleicht auch in Anlehnung an das „soziale Lagerfeuer“, um das man sich gemeinschaftlich zusammenfindet.

Mit Neuzuordnungen zwischen Essen und Räumen befasst sich Kapitel fünf. Hier geht die Autorin auf Flexibilitäten innerhalb der Wohnung sowie außer Haus ein und beschreibt Inversionen zwischen verschiedenen Lebensbereichen (z.B zwischen Ess- und Arbeitsplatz). Die „Brotschmierzentrale“ ist eine besonders plakative Form der nach von Mende „unmittelbare Verräumlichung der Essenspraktik“ in Haushalt Nr. 10. Die zehn männlichen WG-Bewohner installierten in der Küche zusätzlich einen Stehtisch, um sich in gewisser Weise schnell und effizient Proviant zum Mitnehmen zubereiten zu können. Das Brotschmieren Teil einer transitorischen Praktik des entgrenzten Essens unterwegs, die der Zeitknappheit geschuldet sei und sich milieuunabhängig in mehreren befragten Haushalten zeigte.

Das sechste Kapitel widmet sich zeitlichen Faktoren auf Räume und Essen und geht auf Restriktionen sowie auf gesellschaftlich-historische Transitionen des Außer-Haus-Verzehrs sowie der Versorgung in  Betrieben ein. Kultur-historisch verankert widmet sich die Autorin am Ende dieses Kapitels insbesondere dem Kaffee als dem „Getränk der geistigen Arbeit“. Mende zeigt auf, dass mancherorts die Küche „eher ein Ort der Kaffeezubereitung denn ein Ort der Nahrungszubereitung“ sei.

In der Schlussbetrachtung reflektiert die Autorin die Methodik und gibt einen Ausblick auf architektonische Veränderung der Zukunft, lässt dabei jedoch Antworten auf drängende Fragen der Transformation des Ernährungssystems (Stichwort: Nachhaltigkeit) aus architektonischer Perspektive missen. So bleibt das Buch – wie auch der Titel vermuten lässt – ein ‚Status Quo‘ zur Verräumlichung gegenwärtiger Essenspraktiken. Positiv hervorzuheben ist von Mendes kluge, wertfreie Beschreibung der gefundenen Ergebnisse. Stattdessen lässt sie trotz oder gerade wegen ihrer für die Ernährungsbranche ungewohnten Perspektive in weiten Teilen viele Interpretationsspielräume offen, wodurch sie zum Weiterdenken und Anknüpfen an verschiedenste eigene Denkrichtungen einlädt.

Der transdisziplinäre Ansatz der hier beschriebenen Veröffentlichung berücksichtigt, dass Essenspraktiken in unterschiedlichen Räumen mit einer Vielzahl von Wechselwirkungen vollzogen werden. Die Autorin trägt damit zum weitergehenden Verständnis des „Totalphänomens Essen“ bei und sie ergänzt den vorwiegend soziologisch geführten Diskurs um räumlich-architektonische Determinanten. Die Ergebnisse der empirischen Studie bilden die Komplexität des Themas ab, was sich auch im hohen Anspruchs- und Wissenschaftsniveau der Arbeit ausdrückt.

Fazit „Zwischen Küche und Stadt“ ist keine einfache „Bettlektüre“, sondern ein anspruchsvolles Werk, für das ein gewisses Vorwissen der Lesenden in den verschiedenen Theorien und Denkrichtungen förderlich ist, mindestens aber die Bereitschaft, sich auf einen Perspektivenwechsel einzulassen.

Die Forschungsergebnisse sowie die umfangreich bebilderte Darstellungsweise sind sowohl in interdisziplinärerer als auch transdisziplinärer Hinsicht eine Bereicherung. Sie ergänzen soziologische Studien zum Themenkomplex gegenwärtiger Essenspraktiken um eine erweiterte Architektur- und Raumtheorie. Die Ergebnisse lassen Rückschlüsse auf aktuelle Strukturen und Tendenzen der sich mit enormer Dynamik wandelnden, urbanen Gesellschaft und ihrer Lebensweise zu. So werden moderne Essenspraktiken stark den Erfordernissen des Alltags und der Arbeit angepasst, zeitgleich wachsen gerade in urbanen Gebieten die Möglichkeiten Essen anderen Bereichen unterzuordnen oder anzugliedern. Gleichzeitig scheint eine Sehnsucht zu bleiben, dem Essen einen Eigenwert zu geben.

Dr. Karolin Höhl & Dr. Silke Lichtenstein

 

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