Nachhaltige Ernährung: Der Schulterschluss zwischen gesunder Ernährung und Nachhaltigkeit
Life Science Dialogue
Der Nachhaltigkeitsbegriff wurde bereits 1992 auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro geprägt. Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung beschreibt eine Entwicklung, in der die Bedürfnisbefriedigung künftiger Generationen nicht durch den Lebensstil heutiger Generationen gefährdet wird – die heutige Generation sollte nicht auf Kosten zukünftiger Generationen leben. Dies schließe sowohl Umweltbelastungen als auch finanzielle Problematiken mit ein. Eine nachhaltige Entwicklung beinhalte ebenfalls Gerechtigkeit zwischen allen Teilen der Weltbevölkerung. Eine Region der Welt dürfe nicht auf Kosten anderer Regionen leben. Das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung ist demnach, für globale Gerechtigkeit und Chancengleichheit zwischen allen gegenwärtig auf der Erde lebenden Menschen zu sorgen, sowie dies auch für zukünftige Generationen zu sichern.
Klassischerweise wird der Begriff „Nachhaltigkeit“ durch die drei Dimensionen Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt geprägt. Ein im Idealfall ausgeglichenes Verhältnis zwischen diesen drei Dimensionen sei laut von Koerber jedoch heutzutage häufig eher zugunsten der Wirtschaft und auf Kosten der Umwelt und sozialer Erfordernisse verschoben.
Im Rahmen einer studentischen Initiative an der Universität Gießen wurden diese Dimensionen innerhalb der Ernährung schon in den 1970er Jahren geprägt, also fast 20 Jahre vor der o. g. UN-Konferenz. Mitbegründer des studentischen Arbeitskreises war Karl von Koerber, da ihm und seinen Mitstudierenden die Betrachtungsweise der Ernährung hinsichtlich des Stoffwechsels, also nur unter gesundheitlichen Aspekten, zu einseitig erschien. Sie empfanden unter anderem Ökologie, Anbaubedingungen, Ressourcengerechtigkeit und Welternährung ebenfalls als wichtige Felder in der Ernährungswissenschaft. Mit Herrn Professor Dr. Claus Leitzmann fand diese studentische Initiative einen Befürworter und in langjähriger Zusammenarbeit entstand die „Gießener Konzeption der Vollwert-Ernährung“, die 1981 gemeinsam mit Thomas Männle in Buchform veröffentlicht wurde.
Diese Konzeption einer Ernährungsweise hat den Anspruch, die vier Dimensionen Gesundheit/Individuum, Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft gleichermaßen zu berücksichtigen. Im Jahre 1999 publizierte Dr. Karl von Koerber den deutschlandweit ersten Artikel zum Begriff „Nachhaltige Ernährung“, in dem die drei klassischen Dimensionen der Nachhaltigkeit um die Gesundheitsverträglichkeit des Individuums ergänzt wurden. Vor einigen Jahren erfolgte schließlich die Einbettung in eine fünfte Dimension, die Kultur. Die (Ess-)Kultur spiele eine wichtige Rolle, wenn es um die individuelle Verhaltensänderung und die Transformation einer Gesellschaft geht.
Die Verträglichkeit eines Lebensmittels in den fünf Dimensionen einer Nachhaltigen Ernährung sollte in allen Stufen der Lebensmittelversorgung betrachtet werden. Angefangen bei der Vorleistungsproduktion, die unter anderem die Düngemittel- und Pestizidherstellung beinhaltet, über die landwirtschaftliche Produktion und die Verarbeitung in der Lebensmittelindustrie oder im Handwerk. Weitergehend wird auch die Vermarktung des Produktes sowie die Verwendung im Privathaushalt oder in der Gastronomie betrachtet – bis hin zur Abfallentsorgung, die sowohl Verpackungsmüll als auch das Wegwerfen von noch essbaren Lebensmitteln mit einbezieht. Auf all diesen Stufen der Lebensmittelproduktion sollten die fünf Dimensionen der Nachhaltigen Ernährung berücksichtigt werden.
Mit der Konzeption „Vollwert-Ernährung“ bzw. „Nachhaltige Ernährung“ liefern von Koerber und seine Kollegen/innen einen Ansatz, die Verträglichkeit von Lebensmitteln und Ernährungsstilen in diesen Dimensionen zu gewährleisten und den globalen Herausforderungen unserer Gesellschaft gerecht zu werden. Als lösungsorientierte Maßnahmen wurden sieben Grundsätze entwickelt - alle bewusst positiv formuliert, um auf Verbote zu verzichten und lieber zu neuen Lebensgewohnheiten zu ermutigen. Jeder dieser Grundsätze lässt sich aus den fünf Dimensionen begründen. Als Kernsätze gelten die Bevorzugung pflanzlicher Lebensmittel sowie die Bevorzugung gering verarbeiteter Lebensmittel, um den vollen Wert der Lebensmittel zu nutzen und diesen nicht durch einen hohen Verarbeitungsgrad zu verringern. Weiterhin sollten ökologisch erzeugte sowie fair gehandelte Lebensmittel verzehrt und dabei auf regionale und saisonale Produkte zurückgegriffen werden. Schließlich zählen ressourcenschonendes Haushalten sowie genussvolle und bekömmliche Speisen zu einer Nachhaltigen Ernährung.
Die Menschheit steht derzeit vor zahlreichen globalen Herausforderungen, die es zu lösen gilt. Eine dieser Herausforderungen stellen die Gesundheitsprobleme dar. Ernährungsmitbedingte Erkrankungen nehmen mit dem Alter zu. Dies belaste nicht nur das Individuum, das in seiner Lebensqualität eingeschränkt ist, sondern sorgt auch für steigende Kosten im Gesundheitssystem. So kosteten ernährungsmitbedingte Erkrankungen, die unter anderem als Folgen einer falschen Ernährung auftraten, im Jahr 2014 in Deutschland 100 Mrd. €. Auf Nährstoffebene seien die Ursachen für eine Fehlernährung eine zu hohe Aufnahme von Kalorien, zu viele fettige, süße und salzige Komponenten und eine teilweise zu geringe Aufnahme an bestimmten Vitaminen und Mineralstoffen sowie Ballaststoffen und sekundären Pflanzenstoffen. Auf der Lebensmittelebene stellten die Hauptprobleme zu viele tierische Lebensmittel und stark verarbeitete Produkte dar. Um diesen gesundheitlichen Problemen vorzubeugen, sollten Lebensmittel verzehrt werden, die zwar wenig Nahrungsenergie liefern, aber gleichzeitig eine hohe Nährstoffdichte an essenziellen und gesundheitsfördernden Inhaltstoffen sowie eine genügend sättigende Wirkung aufweisen. Das sind vor allem pflanzliche Lebensmittel sowie gering verarbeitete Produkte – zwei zentrale der vorher genannten sieben Grundsätze.
Bei den Herausforderungen auf der Umweltebene seien neben dem Klimawandel besonders der Verlust der Biodiversität (Artensterben) und der Stickstoffkreislauf (durch Mineraldünger in der konventionellen Landwirtschaft) bedrohlich weit fortgeschritten. Die Insekten-Biomasse sei laut aktuellen Studien in 63 Naturschutzgebieten in Deutschland in nur 27 Jahren um 75 % gesunken. Aufgrund des Insektensterbens sowie von sog. „Flurbereinigungen“ (Entfernen von Hecken und Ackerrandstreifen) seien auch zwei Drittel der Vogelarten vom Aussterben bedroht.
Durch den Anstieg der globalen Lufttemperatur infolge des Klimawandels schmelzen die Eisflächen am Nordpol. Dies sei nicht für den Anstieg des Meeresspiegels verantwortlich, da diese im Wasser schwimmen. Wenn allerdings das auf dem Festland befindliche Eis, beispielsweise von Grönland, in den Ozean rutscht und schmilzt, könne dies einen Anstieg des Meeresspiegels um einige Meter bewirken und somit aufgrund dauerhaft überschwemmter Landesabschnitte zu einer Welle von Klimaflüchtlingen führen.
Verantwortung für die Erwärmung des Klimas tragen insbesondere die Menschen in den reichen Nationen (wie USA, Kanada, Europa, Australien sowie Japan) und einige Schwellenländer durch einen (zu) hohen Ressourcenverbrauch. Leidtragende der Klimaerwärmung sind dagegen hauptsächlich die Menschen in armen Ländern des Globalen Südens.
Das Pariser-Klimaschutzabkommen schreibt vor, die Temperaturerhöhung auf 1,5 bis max. 2°C zu begrenzen. Um dies zu erreichen, müssen weltweit die Treibhausgase in allen Sektoren massiv gesenkt werden. Dazu sei eine Transformation zu einer klimaverträglichen Gesellschaft notwendig, welche durch den Ersatz fossiler Energien durch regenerative Energien, eine Steigerung der Energieeffizienz, Unterstützung der Entwicklungsländer beim Klimaschutz sowie auf individueller Ebene die Umsetzung eines klimafreundlichen, nachhaltigen Lebensstils (u. a. Ernährung) erfolgen müsse.
Laut Berechnungen der Daten vom Bundesumweltamt verursachen die Bereiche Ernährung, Personenverkehr (insb. Auto, Flugverkehr) und Wohnen mit jeweils rund 20 % etwa 2/3 aller Treibhausgas-Emissionen in Deutschland. Betrachtet man die Ernährung genauer, fallen insbesondere die tierischen Lebensmittel (Fleisch, Wurst, Milch, Eier, Fisch) bei der Entstehung von Treibhaus-Emissionen stark ins Gewicht (etwa 2/3 aller ernährungsbedingten Klimagase!). Eine Bevorzugung pflanzlicher Lebensmittel sei demnach nicht nur vorteilhaft für die Gesundheit, sondern ebenso unabdingbar für den Klimaschutz.
Als Ursache für die Welthungerkrise gelte nicht, wie weithin angenommen, die mangelnde Produktivität der Landwirtschaft oder die Zunahme der Weltbevölkerung, sondern die weit verbreitete Armut in vielen Ländern des Globalen Südens, das heißt die ungerechte Verteilung des weltweiten Vermögens. Während fast 70 % der Weltbevölkerung lediglich über 3 % des Weltvermögens verfügen, besitzen knapp 10 % der Weltbevölkerung mehr als 80 % des Gesamtkapitals. Die dadurch entstehende Armut sei unter anderem eine Ursache für die Landflucht zahlreicher Menschen und damit für die Verelendung in den Armenvierteln großer Städte.
Die Produktion von pflanzlichen Lebensmitteln nutzt die Ackerflächen der Welt effektiver als die Erzeugung tierischer Lebensmittel. Dadurch könne eine Bevorzugung pflanzlicher Lebensmittel und eine Verminderung tierischer Produkte eine Herangehensweise sein, um zur Lösung der Welternährungsproblematik beizutragen.
Unter dem Begriff „Sustainable Development Goals“ (SDGs) hat die UN 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung zusammengefasst. Für die Erreichung dieser Ziele sind sechs weltweite Programme initiiert worden, unter anderem ein Programm für nachhaltige Ernährungssysteme (SFSP). Parallel dazu läuft das Weltaktionsprogramm Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) der UNESCO, welches alle Bildungsinstitutionen mit einbezieht. Seit 2017 gibt es in Deutschland zudem das „Nationale Programm für nachhaltigen Konsum“ und den „Nationalen Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung“, die konkrete Umsetzungsvorschläge für den Konsum und für Bildungsmaßnahmen enthalten.
Eine nachhaltige Ernährungsweise fördert vorbeugend den Gesundheitsschutz, faire Wirtschaftsbeziehungen, soziale Gerechtigkeit, eine saubere Umwelt sowie eine lebendige Esskultur. Die Gründe für zumeist höhere Preise nachhaltiger Lebensmittel sollten transparent kommuniziert werden, um die Wertschätzung von Lebensmitteln, der Umwelt und der Gesundheit zu erhöhen. Den Schlüssel dazu stelle eine umfassende „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ dar.
Quelle: Vortrag von Dr. Karl von Koerber beim Life Science Dialogue am 27.04.2018 in Heidelberg
Bild: Christoph Bastert Fotografie
Weiterführende Informationen unter: https://nachhaltigeernaehrung.de.