Die Mahlzeit - Alte Last oder neue Lust?

Über den Stellenwert der Mahlzeit im Familienalltag und in der „neuen“ (Ganztags-) Schule diskutierten am 24. und 25. September 2008 rund 70 Ernährungsfachleute, Lehrkräfte und Medienvertreter beim 12. Heidelberger Ernährungsforum der Dr. Rainer Wild-Stiftung, Stiftung für gesunde Ernährung in Heidelberg. Anhand neuer Erkenntnisse aus unterschiedlichen Fachgebieten wurde den Multiplikatoren die Funktion der Mahlzeit als Ort der Entwicklung der Esskultur sehr differenziert dargestellt. Tagungsleiterin Dr. Gesa Schönberger von der Dr. Rainer Wild-Stiftung forderte die Teilnehmer in ihrer Einführung dazu auf, sich auch die schwierigen Aspekte der Familienmahlzeit vor Augen zu führen, wie beispielsweise Macht- und Kontrollrituale zwischen Eltern und Kindern oder Überforderung und Zeitnot der Eltern. Zudem sei es wichtig, die Lockerung der Traditionen und den veränderten Lebensstil als Realität anzunehmen, damit die Verpflegungssituation in der Schule nicht noch schwieriger werde. Im Laufe der beiden Tage wurde deutlich, dass es bei entsprechenden Vorraussetzungen sehr wohl möglich ist, dass Außer-Haus-Mahlzeiten wie die Schulverpflegung sinnvolle Bestandteile des Essalltags sein können. Außerdem ließe sich Esskultur, Sozialverhalten und Geschmacksprägung durch das Essen selbst besser lernen als durch Lernprogramme im Unterricht.

Der Essalltag erwerbstätiger Mütter ist von der Versorgungsrolle der Mutter und der Suche nach dem „idealen“ Muttertyp bestimmt, berichteten Jaqueline Köhler und Uta Zander aus den Arbeitsgruppen Prof. Dr. Ingrid-Ute Leonhäuser und Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe der Universität Gießen. In ihrer qualitativen Studie befragten sie Mütter, wie sie den Essalltag ihrer Familie organisieren und worauf sie dabei Wert legen. Hierbei wurde deutlich, dass es sehr unterschiedliche Wertvorstellungen und „Muttertypen“ gibt, die sich in verschiedener lebenspraktischer Umsetzung der Essensversorgung äußert. Die Studie benennt acht Typen, darunter zum Beispiel „Traditionalistinnen“, „berufsorientierte Netzwerkerinnen“ und „pragmatische Selbstständige“. Köhler und Zander betonten, dass jeder dieser Typen einer nachvollziehbaren Eigenlogik folge und deshalb andere Bedürfnisse nach Unterstützung habe.

Weiter ging es um Trends im Frühstücksverhalten von Kindern und Jugendlichen, bei denen Familieneinkommen, Alter, Geschlecht und Vorbild der Eltern eine Rolle spielen, so Dr. Ute Alexy vom Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund. Es frühstückten heute weniger Kinder zu Haus als noch vor 20 Jahren. Dafür werden u. a. Lebensstil, Vorbildfunktionen aus der Werbung und Zeitmangel verantwortlich gemacht. Außerdem würde stärker als früher akzeptiert, dass es „Morgenmuffel“ und „ Frühstarter“ gibt. In einem weiteren Vortrag stellte Alexy das Optimix-Konzept für Schulmahlzeiten vor, das konventionelle Rezepte so umstrukturiert, dass der gesundheitliche Aspekt besser berücksichtigt wird. Kinder bewerteten diese Mahlzeiten im Allgemeinen gut, was für das Konzept spricht. Lebensmittel- und Mahlzeitbezogene Empfehlungen seien außerdem viel leichter umzusetzen als nährstoffbezogene und machten den Verantwortlichen die Planung deutlich einfacher. Leider seien die erarbeiteten Qualitätsstandards für die Schulverpflegung nur Empfehlungen und keine verbindlichen Richtlinien. Die zuständigen Stellen scheuten die damit verbundenen Qualitätskontrollen und Kosten. „Eine optimierte Schulernährung wird dann erfolgreich sein, wenn sie Teil eines pädagogischen Konzeptes ist.“

„Wir müssen uns von zahlreichen ideologischen Vorstellungen über die Familienmahlzeit befreien“, forderte Prof. Dr. Kirsten Schlegel-Matthies von der Universität Paderborn. Das viel beschworene Gemeinschaftsgefühl der Familie könne auch auf anderen Ebenen im Zusammenleben hergestellt werden. Eindrucksvolle Fotos der Familienmahlzeit über mehrere Jahrhunderte demonstrierten den Wandel im Bewusstsein der Bevölkerung. „Die ideologische Überhöhung der Familienmahlzeit negiert und verschleiert die Arbeitsleistung der Herstellenden (das sind immer noch meist die Frauen) und erschwert eine sachliche Diskussion über Verpflegungsangebote.“ Auf den Familien laste oft ein enormer Druck, vielfachen Ansprüchen gerecht zu werden. Zu viele Erwartungen an die gemeinsame Mahlzeit, die seit den 70er Jahren immer mehr in „Zeitnischen“ verlegt werde oder vor dem Fernseher stattfinde, erzeugten häufig Schuldgefühle, die nicht zu einer harmonischen Atmosphäre beitragen. Wann ist man eine „gute“ Mutter?

Dabei ist die Ernährungserziehung keine leichte Aufgabe, so Dr. Sabine Schmidt, Oecotrophologin aus Gießen. Kinder lernten das Essen beim Essen. Nicht nur das Angebot der Speisen, sondern auch die kulturellen und familiären Gegebenheiten und die Prägung von Gewohnheiten seien wichtig. Restriktive Strategien, wie z. B. starke Einschränkung im Verzehr von Süßigkeiten, machten diese erst interessant und wirkten oft kontraproduktiv – ebenso wie Belohnungs- und Bestrafungsmaßnahmen, die sich auf die Wertschätzung der Nahrungsmittel auswirkten. Natürliche Sättigungssignale gingen dabei unter. Eltern müssten sich wieder verstärkt als Vorbild wahrnehmen.

Dabei – und auch in einem gelasseneren Umgang mit den verschiedenen Empfehlungen – bräuchten sie Unterstützung. Dass dies von Jugendlichen geschätzt würde und sogar erwünscht sei, berichtete Dr. Silke Bartsch aus Berlin. Die von ihr durchgeführte Jugendesskulturstudie hat ergeben, dass Jugendliche mehr die Gespräche als das Essen selbst suchten. Der Abschied von bürgerlichen Idealvorstellungen über die Bedeutung von Familienmahlzeiten sollte ihrer Meinung nach als Chance zur Neugestaltung des familiären Zusammenlebens gesehen werden.

Über zum Teil unbewusst ablaufende Rituale und Handlungen bei Tisch wusste die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Kathrin Audehm von der Freien Universität Berlin zu berichten. In einer teilnehmenden Beobachtung hatte sie die Rituale dreier Familien bei Tisch detailliert aufgezeichnet und analysiert. Sie machte deutlich, dass diese Rituale früh gelernt und immer wieder bekräftigt werden. Damit seien sie Teil einer familieninternen „sozialen Magie“ und Privatheit, die es zu schützen gelte.

Der 2. Tag begann mit der Bedeutung des Ambientes für die Wahrnehmung und Bewertung von Mahlzeiten, die lange Zeit unterschätzt worden sei. Denn neben den Speisen selbst und dem Geschmack spielten auch die Situation, in der sich der Essende befindet sowie seine Stimmungen und Erwartungen eine Rolle, so Dr. Thorsten Seemüller. Anhand einer Studie der Universität Gießen in Zusammenarbeit mit der Dr. Rainer Wild-Stiftung konnte er zeigen, dass sich rund um das Essen eine Vielzahl von Einflüssen ranken, die sich auf die Wahrnehmung und Bewertung des Essens auswirken. Besonderes Gewicht habe in dieser Studie jedoch das Geschlecht, das Alter und das Interesse an Ernährung gehabt.

Dass das Ambiente auch in der Schulverpflegung eine Rolle spielt trug Prof. Dr. Gertrud Winkler von der Hochschule Albstadt-Sigmaringen vor. Um Schulmahlzeiten langfristig attraktiv zu machen und um kalkulierbare Essenszahlen zu erhalten, müssten neben einem qualitativ guten Speisenangebot, einem entsprechenden Umfeld und einem stimmigen Rahmen alle Schulmitglieder angesprochen werden. Die Mensa sei integrierter Teil des Lebensraums Schule. Wenn politische, gesetzliche und bauliche Vorrausetzungen fehlten, trüge auch ein gut zusammengestelltes Essen nicht zur Zufriedenheit bei – es bliebe reine Nährstoffversorgung. Natürlich dürften die Kosten der Mahlzeit aber nicht zu Ausgrenzungen von Kindern führen.

In einem weiteren Referat ging Dr. Ulla Simshäuser von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg der Frage nach, was Schulverpflegung leisten soll und kann. Bei diesem Thema seien die im Hintergrund schwelenden Auseinandersetzungen über Gestaltungsmacht und Demokratieverständnis der einzelnen Partner zu berücksichtigen. Oft fehlten konkrete eigene Visionen. Durch Rollenzuweisungen, die Unmut erzeugen, könne es zur Überlastung der Verantwortlichen kommen. Simshäuser machte Mut, an der neuen Qualität des Zusammenlebens im öffentlichen Alltag zu arbeiten. Vergleiche aus anderen Ländern seien nur bedingt auf Deutschland zu übertragen, da z. B. in Frankreich der gemeinsame Essenstisch ganz anders interpretiert werde.

Abschließend gab Dr. Gesa Schönberger einen Ausblick auf die Mahlzeit im Jahr 2030, der nachdenklich stimmte, aber auch Anregungen bot, um die Vorbehalte gegen die Schulverpflegung aus Sorge um die Zerstörung der Familienmahlzeit abzubauen. Mahlzeiten über Tag würden zunehmend „Ich-Mahlzeiten“ werden, die nebenbei, gemeinsam oder allein, schnell und unaufwändig und ad hoc konsumiert werden – ab und zu „angereichert“ durch Koch- und Essensevents in oder außer Haus. Speisen würden austauschbar, aber mit vielen Funktionen versehen; wie gehabt würden sich Status und Einkommen im Essen spiegeln und der Genuss der Speisen werde höher bewertet als die Versorgungsfunktion, weil die meisten Menschen schon lange keine Beziehung mehr haben zu Herstellung und Verarbeitung von Lebensmitteln – zumal diese dauernd verfügbar sind. Schönberger forderte auf, nach Möglichkeiten zu suchen, auch im außerhäuslichen Bereich möglichst viele Funktionen einer Mahlzeit zu erfüllen. Schulverpflegung biete gute Ansätze, gesunde Aspekte der Ernährung mit anderen Zielen wie Integration, Kommunikation und Esskultur zu verbinden.

Nun bleibt zu hoffen, dass Unterstützungsangebote, wie die im September 2008 gegründete „Vernetzungsstelle Schulverpflegung Baden-Württemberg“ dazu beitragen, Schulmahlzeiten in die Schulkultur zu integrieren.

Dr. Renate Storch, BeKi-Fachfrau für Kinderernährung, Heidelberg

Die Dr. Rainer Wild-Stiftung, Stiftung für gesunde Ernährung versteht sich als Kompetenzzentrum für gesunde Ernährung und Ansprechpartner für Fachleute, Wissenschaftler und Multiplikatoren. Auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse will sie ein tieferes Verständnis für die existenzielle Bedeutung gesunder Ernährung schaffen und setzt sich aktiv für einen zeitgemäßen und verantwortungsbewussten Umgang mit Ernährung ein. Mit einer umfassenden Herangehensweise beleuchtet sie das Thema Ernährung aus verschiedenen Blickwinkeln. Im Mittelpunkt ihrer Projekte, Publikationen und Veranstaltungen stehen Ernährungsbildung, Verbraucherverhalten, Esskultur und Geschmacksforschung. Die Dr. Rainer Wild-Stiftung wurde 1991 von Prof. Dr. Rainer Wild, einem Unternehmer aus der Lebensmittelindustrie, in Heidelberg gründet. Sie ist eine gemeinnützige und unabhängige Stiftung des bürgerlichen Rechts. Gemäß ihrer Satzung ist sie operativ tätig und nicht fördernd.

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